Evangelische Akademie Loccum
vom 01.09. bis 08.11.2019
Münchehäger Str. 6, 31547 Rehburg-Loccum
Ausschnitte aus der Laudatio des Leiters ‚Kulturpolitik, Politische Kultur, Medien‘ der Evangelischen Akademie Loccum, Herr Dr. Albert Drews, anlässlich der Finissage am 25.10.2019:
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Frau Gottschalk, liebe Frau Deppe,
Ich will die Gelegenheit dieser einleitenden kleinen Rede nutzen, mich etwas mit den Begriffen „Intuition und Verstand“ auseinanderzusetzen und ihnen schildern, wie ich diesen Titel im Zusammenhang mit der konkreten Ausstellung interpretiere. Vielleicht sind die Intentionen der beiden Künstlerinnen, die zu diesem Titel geführt haben, ja ganz andere, vielleicht entstehen auch bei Ihnen, als Publikum, ganz andere Assoziationen. Das wäre nicht schlimm, sondern im Gegenteil ganz wunderbar, denn darin besteht ja der Reiz beim Betrachten einer Ausstellung.
Von Lonny Deppe sehen wir sowohl einige Werke der Rakelkunst, eine Technik, die vor allem vom großen Maler Gerhard Richter geprägt ist und der sich Frau Deppe seit einiger Zeit mit großer Leidenschaft verschrieben hat. Wir sehen aber auch einige Bilder aus der jüngsten Phase, in der sie Motive reliefartig, mit sehr viel Material, modelliert und gestaltet, so dass sie fast als dreidimensional bezeichnet werden können. Intuition, so würde ich mutmaßen, ist bei ihr vor allem die Neugier auf das Material und was daraus entsteht.
Renate Gottschalk bezeichnet ihren Malstil als einen „zwischen Realismus und Abstraktion“. Und tatsächlich ist es bei ihr nicht die Materialität, sondern die Motivik mit genau diesem Spannungsverhältnis, die ins Auge springt. In ihren Bildern kann man zunächst ganz abstrakte Motive erkennen, die sich bei genauerem Betrachten zu ganz konkreten, teilweise erstaunlich realistischen Motiven entwickeln. Der Höhepunkt des realistischen Eindrucks ist zumeist dann erreicht, wenn man den Titel wahrgenommen hat. Wahrnehmen – dieses Verb ist hier ganz wichtig. Die Bilder von Renate Gottschalk spielen auf faszinierende Weise mit der menschlichen Wahrnehmung, indem wir als Betrachter zunächst intuitiv Formen als abstrakte Kompositionen wahrnehmen, eher wir sie mit unserem Verstand zu realen Bildern verdichten. Der erstaunliche Effekt dabei: Wir entdecken dabei beispielsweise die ästhetische Qualität einer „Fabrik am Wasser“, billigen ihr eine eigene Schönheit zu, die wir in der Realität vielleicht nie entdeckt hätten. Das kann Malerei.
Bei Lonny Deppe passiert etwas anderes: Mein Verstand als Betrachter fragt gar nicht so sehr nach dem „Was ist hier zu sehen?“ Vielmehr kommt von einem rationalen Standpunkt her zunächst die Frage auf: „Wie ist das gemacht?“ Und tatsächlich ist das die Frage, die ich am häufigsten höre, wenn ich mit Gästen über die ausgestellten Bilder ins Gespräch komme. „Sagen Sie, können Sie mir das sagen: Wie hat die Künstlerin das gemacht?“ Auf diese Frage kann man natürlich rational antworten, die Rakeltechnik erklären, Frau Deppe natürlich viel besser als ich, der ich kein praktizierender Maler bin und mich informieren muss. Wie wäre es stattdessen mit der Antwort „Das ist doch egal – ob es Ihnen gefällt oder nicht, hängt doch nicht von der Technik ab, mit der es gemacht wurde“, was ich aus Höflichkeit natürlich nicht tue. Denn wichtig ist doch dieser erste Moment, in der uns das jeweilige Bild fasziniert, weil wir intuitiv erkennen, dass wir es mit einer besonderen Ausdrucksweise zu tun haben – bevor wir fragen, wie es gemacht wurde. Dass diese Bilder Geheimnisse haben, gerade weil wir, ohne dass es uns erklärt wird, nicht sofort erfassen können, wie sie gemacht sind. Die Bilder verbergen immer etwas. Bei den Rakelbilder möchte man dahinterkommen: was ist das, was da wie verwischt aussieht, warum kann man das nicht erkennen? Und bei den neueren Bildern: Welche Schichten liegen hinter den Schichten verborgen, was wir gerade nicht erkennen? So läuft die Wahrnehmung zumindest bei mir bei den Bildern von Lonny Deppe ab: Meine Intuition appelliert an meinen Verstand: Finde in den Schichten die Wahrheit, die dahintersteckt. Und in diesem intuitiven Spiel mit der Wahrnehmung liegt der ästhetische Reiz bei der Beschäftigung mit ihren Bildern.
So ist das mit der Wahrnehmung. Für uns alle ist da zunächst der Sinnesreiz, den wir erfassen und erfassen. Und intuitiv konstruieren wir einen Sinn daraus, versuchen das, was wir sehen (hören oder schmecken) anhand dessen, was wir kennen, wissen, an Bildern in uns haben, einzuordnen. Und Kunst entsteht überall dort, wo mir merken: dahinter ist noch mehr, etwas was uns inspiriert, anspricht, berührt. Aber wir können es nicht fassen, entzieht sich unsere Beschreibung. Es ist unerwartet, neu und geheimnisvoll. Wir Christen, wir sind hier ein evangelisches Haus, deuten dieses „dazwischen“ religiös und füllen es mit Gott. Über dem Eingang dieses Hauses steht das Bibelwort „In Jesus Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit oder Erkenntnis“ (Paulus, Kolosserbrief 2,3) Aber man muss dieses Dazwischen nicht religiös deuten, der säkulare italienische Kulturkritiker Benedetto Croce nennte es beispielsweise einfach „Erhabenheit“. Nirgendwo wird dieses Dazwischen so sehr bewusst gemacht, wie in der Kunst.
„Zwischen Intuition und Verstand“ – über die Begriffe Intuition und Verstand wollte ich sprechen, und nun habe die ganze Zeit vom vermeintlich unwichtigsten Wort in diesem Titel (sieht man mal vom „und“ ab) gesprochen: nämlich vom „Zwischen“. Aber so ist das manchmal.
Ich möchte aber, das ist mir bei Kunst immer wichtig, nicht nur mit tiefschürfenden Gedanken aufwarten. Das schöne und vielschichtige an Bildern ist ja: sie kommen auch leicht daher. Und so wird mit vielem, zu dem man sich schwere, philosophische Gedanken machen kann, in der Malerei auch einfach gespielt. Haben Sie zum Beispiel schon im Kapellengang das Bild von Renate Gottschalk mit dem Titel „Geigenspiel“ entdeckt? Es spielt mit der Illusion, zunächst eine Landschaft zu sehen, die sich im Gewässer derart spiegelt, dass sich aus Original und Spiegelbild eine Geige ergibt – oder eben umgekehrt. Solche kleinen Entdeckungen der Malerin, an die Betrachter weitergegeben, sind es, die eine solche Ausstellung so liebenswert machen, an denen die Besucher hängen bleiben und die sie einfach erfreuen. Die Erkenntnis des durch Google Earth geschulten Blicks desjenigen, der im Navigationssystem seines Fahrzeugs gerade noch den Weg nach Loccum gesucht hat, und nun das Bild „River“ von Lonny Deppe (auch auf dem Cover des kleinen Faltblattes) erspäht: „Ha – das ist doch der Bodensee“. Ja, kann man so sehen. Und vieles mehr eben auch.